ACHTUNDZWANZIG

Nach dem Festival quetschen wir uns ins Auto machen kurz bei ihr zuhause Halt, um den Flachmann wieder aufzufüllen, und fahren dann in die Stadt, wo wir auf der Straße parken und die Parkuhr mit Kleingeld vollstopfen. Dann stürmen wir in eingehakter Dreierreihe die Bürgersteige entlang, so dass alle anderen Fußgänger uns ausweichen müssen, während wir aus vollem Hals völlig falsch singen. Und jedes Mal vor Lachen ins Taumeln geraten, wenn jemand hämisch kichert oder uns kopfschüttelnd betrachtet.

Und als wir an einer New-Age-Buchhandlung vorbeikommen, in der Hellsehen angeboten wird, verdrehe ich nur die Augen und schaue weg, voller Freude, dass ich nicht länger ein Teil dieser Welt bin, jetzt, da der Alkohol mich erlöst hat. Jetzt, da ich frei bin.

Wir überqueren die Straße zum Main Beach und stolpern am Hotel Laguna vorbei, bis wir auf den Sand fallen, die Beine übereinander, die Arme ineinander verschlungen. Dort reichen wir die Flasche herum und betrauern den Verlust ihres Inhalts, sobald sie leer ist.

»Mist!«, brummele ich, lege den Kopf weit zurück und klopfe heftig auf Boden und Seiten des Flachmanns, um noch den letzten Tropfen zu ergattern.

»Mann, lass es gut sein.« Miles sieht mich an. »Lehn dich einfach zurück, und genieß den Schwips.«

Aber ich will mich nicht zurücklehnen. Und ich genieße den Schwips ja. Ich will nur sicher sein, dass er andauert. Jetzt, da meine hellseherischen Fesseln gesprengt sind, will ich sichergehen, dass sie gesprengt bleiben. »Wolln wir zu mir fahrn?«, nuschele ich und hoffe, dass Sabine nicht zuhause ist, damit wir an den Wodka herankommen, der noch von Halloween übrig ist, und dafür sorgen können, dass der Schwips nicht aufhört.

Doch Haven schüttelt den Kopf. »Vergiss es«, wehrt sie ab. »Ich bin völlig fertig. Ich überlege gerade, ob ich den Wagen stehen lassen und nach Hause kriechen soll.«

»Miles?« Mit flehenden Augen sehe ich ihn an; ich will nicht, dass die Party endet. Dies ist das erste Mal, dass ich mich so leicht fühle, so frei, so unbeschwert, seit - na ja, seit Damen fortgegangen ist.

»Geht nicht.« Auch er schüttelt den Kopf. »Familienessen. Punkt halb acht. Krawatte nach Belieben. Zwangsjacke Pflicht.« Er lacht und rollt in den Sand, während Haven umkippt und sich ihm anschließt.

»Na, und was ist mit mir? Was soll ich machen?« Ich verschränke die Arme und funkele meine beiden Freunde böse an; ich will nicht allein gelassen werden und zusehen, wie sie lachen und zusammen herumkullern und mich gar nicht zur Kenntnis nehmen.

 

Obwohl ich am nächsten Morgen verschlafe, ist der erste Gedanke, der mir durch den Kopf geht, als ich die Augen öffne: Mein Kopf tut nicht weh. Jedenfalls nicht so wie sonst.

Dann rolle ich mich herum, greife unters Bett und hole die Wodkafiasche hervor, die ich gestern Abend dort versteckt habe. Ich nehme einen langen, tiefen Schluck und schließe die Augen, als die warme, wunderbare Betäubung des Alkohols meine Zunge überzieht und meine Kehle hinabgleitet.

Und als Sabine den Kopf in mein Zimmer steckt, um zu sehen, ob ich aufgestanden bin, sehe ich entzückt, dass ihre Aura verschwunden ist.

»Ich bin wach!«, verkünde ich, schiebe die Flasche unter ein Kissen und stürze mich auf sie, um sie zu umarmen. Ängstlich bestrebt, zu sehen, was für ein Energieaustausch dabei stattfindet, und hellauf begeistert, als nichts dergleichen geschieht. »Ist das nicht ein wunderschöner Tag?« Ich lächele, dabei fühlen sich meine Lippen seltsam an.

Sabine schaut aus dem Fenster und sieht dann wieder mich an. »Wenn du meinst.«

Ich schaue durch die Balkontür in einen Tag, der grau, bewölkt und regnerisch ist. Allerdings habe ich ja nicht vom Wetter gesprochen. Ich habe von mir geredet. Von meinem neuen Ich.

Das neue, bessere Ich ohne jegliche hellseherische Fähigkeiten.

»Erinnert mich an zuhause.« Achselzuckend streife ich mein Nachthemd ab und verschwinde unter der Dusche.

 

Sobald Miles in mein Auto steigt, wirft er einen einzigen Blick auf mich und stammelt: »Was zum ...?«

Ich blicke auf meinen Pulli hinunter, auf den Jeansmini und die Ballerinaslipper; Relikte, die Sabine von meinem früheren Leben aufgehoben hat, und ich lächele.

»Tut mir leid, aber ich fahre nicht mit Fremden«, sagt er, öffnet die Tür und tut so, als wolle er wieder aussteigen.

»Ich bin's, wirklich. Wenn ich lüge, will ich tot ... Na ja, glaub einfach, dass ich es bin.« Ich lache. »Und mach schon die Tür zu, das fehlt mir noch, dass du rausfällst und wir deswegen zu spät kommen.«

»Ich raff's nicht.« Mit offenem Mund starrt er mich an. »Ich meine, gestern hast du praktisch noch eine Burka getragen, und jetzt siehst du aus, als hättest du den Kleiderschrank von Paris Hilton ausgeräumt.«

Ich sehe ihn an.

»Nur mit mehr Klasse, mit viel mehr Klasse.«

Lächelnd trete ich aufs Gaspedal, so dass die Reifen von der nassen, schwammigen Fahrbahn abheben, und werde erst langsamer, als mir einfällt, dass mein innerer Cop-Radar nicht mehr vorhanden ist, und Miles losbrüllt.

»Ganz im Ernst, Ever, was zum Teufel geht hier ab? O Gott, bist du etwa immer noch betrunken?«

»Nein!«, antworte ich ein wenig zu schnell. »Ich fange nur allmählich an, aufzutauen, weißt du? Manchmal kann ich während der ersten ... paar ... Monate ein bisschen ... schüchtern sein.« Ich lache. »Aber verlass dich drauf, das hier bin ich so, wie ich wirklich bin.« Ich nicke nachdrücklich und hoffe, dass er mir das abkauft.

»Ist dir eigentlich klar, dass du dir ausgerechnet den verregnetsten, ekelhaftesten Tag des ganzen Jahres ausgesucht hast, um aufzutauen?«

Kopfschüttelnd fahre ich auf den Parkplatz, während ich erwidere: »Du hast ja keine Ahnung, wie wunderschön dieser Tag ist. Erinnert mich an zuhause.«

Ich stelle den Wagen in der nächsten Parklücke ab, dann rennen wir zum Tor und halten uns dabei die Rucksäcke als behelfsmäßige Regenschirme über den Kopf, während unsere Schuhsohlen das Wasser gegen unsere Beine spritzen lassen. Und als ich Haven bibbernd unter dem Dachvorsprung stehen sehe, würde ich vor Freude am liebsten einen Luftsprung machen, weil sie keine Aura hat.

»Was zum ...?« Ihr quellen fast die Augen über, als sie mich von oben bis unten mustert.

»Ihr beide müsst echt mal lernen, einen Satz zu Ende zu bringen«, bemerke ich lachend.

»Jetzt mal im Ernst, wer bist du?«, fragt sie und starrt mich immer noch ungläubig an.

Miles lacht, legt die Arme um uns beide und führt uns durchs Tor. »Kümmer dich nicht um Miss Oregon, die findet einfach nur, dass heute ein wunderschöner Tag ist.«

Im Englischunterricht bin ich erleichtert, dass ich nichts mehr hören oder sehen kann, was eigentlich nicht für mich bestimmt ist. Und obwohl Stacia und Honor miteinander flüstern und mit finsterer Miene meine Klamotten, meine Schuhe, meine Haare und sogar das Make-up betrachten, das ich aufgelegt habe, lasse ich das achselzuckend an mir abgleiten und kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten. Denn obgleich ich mir sicher bin, dass sie nichts auch nur annähernd Freundliches von sich geben, macht die Tatsache, dass ich keinen Zugang mehr zu dem Wortlaut an sich habe, einen Riesenunterschied aus. Als ich die beiden dabei ertappe, wie sie mich abermals ansehen, lächele und winke ich ihnen ganz einfach zu, bis es ihnen peinlich wird, und sie sich abwenden.

Doch in der dritten Stunde, in Chemie, ist der Schwips fast ganz verflogen. Er weicht einem Dauerbeschuss aus Farben und Geräuschen, der mich zu überwältigen droht.

Und als ich die Hand hebe und darum bitte, den Raum verlassen zu dürfen, schaffe ich es gerade noch durch die Tür, ehe es mich völlig übermannt.

Unsicher stolpere ich zu meinem Spind und drehe wieder und wieder an dem Zahlenschloss, während ich versuche, mich an die richtige Nummernfolge zu erinnern. 24-18-12-3? Oder 12-18-3-24?

Mit dröhnendem Kopf und tränenden Augen sehe ich mich auf dem Flur um, und dann habe ich es - 18-3-24-12. Ich wühle mich durch einen Haufen Bücher und Papiere, die dabei alle zu Boden fallen, doch ich achte nicht darauf, wie sie vor meinen Füßen landen, ich will nur an die Wasserflasche, die ich im Spind versteckt habe, sehne mich nach ihrer süßen, flüssigen Erlösung.

Rasch schraube ich den Verschluss ab und lege den Kopf in den Nacken, nehme einen tiefen Zug, dem bald ein zweiter folgt, und dann noch einer und noch einer. Und in der Hoffnung, so die Mittagspause zu überstehen, trinke ich gerade noch einen letzten Schluck, als ich höre:

»Und bitte recht freundlich lächeln. Nein? Macht nichts, ich hab's trotzdem.«

Voller Entsetzen sehe ich Stacia auf mich zukommen und ein Fotohandy hochhalten, auf dessen Display ganz deutlich ein Bild von mir zu sehen ist, wie ich mich mit Wodka abfülle.

»Wer hätte gedacht, dass du so fotogen bist? Aber schließlich haben wir ja auch nicht oft Gelegenheit, dich ohne deine Kapuze zu sehen.« Sie lächelt, und ihr Blick wandert von meinen Füßen bis zu meinem Pony.

Ich starre sie an, und obwohl das Trinken meine Sinne abgestumpft hat, ist sonnenklar, was sie vorhat.

»Wem soll ich das hier zuerst schicken? Deiner Mom?« Sie zieht die Brauen hoch und schlägt in gespieltem Schrecken die Hand vor den Mund. »Oh, entschuldige, tut mir leid. Ich wollte sagen, deiner Tante? Oder vielleicht einem von deinen Lehrern? Oder vielleicht allen deinen Lehrern?

Nein? Nein, du hast Recht, das hier sollte auf kürzestem Wege an den Direktor gehen, eine Fliege mit einer Klappe. Ein sauberer Abschuss, wie es so schön heißt.«

»Das ist eine Wasserflasche«, erwidere ich und bücke mich, um meine Bücher aufzuheben und sie wieder in den Spind zu stopfen. Dabei gebe ich mir alle Mühe, ganz locker zu wirken, so zu tun, als wäre mir das alles egal, denn ich weiß, dass sie Angst besser riechen kann als jeder Polizeispürhund. »Alles, was du in der Hand hast, ist ein Foto von mir, wie ich aus einer Wasserflasche trinke. Voll der Hammer.«

»Eine Wasserflasche.« Sie lacht. »Ja, das stimmt. Und ungeheuer originell, wenn ich das hinzufügen darf. Bestimmt bist du die Allererste, die jemals darauf gekommen ist, Wodka in eine Wasserflasche zu füllen.« Sie verdreht die Augen. »Bitte. Du bist so was von erledigt, Ever. Ein kleiner Nüchternheitstest, und es heißt auf Wiedersehen, Bay View, Hallo, Akademie der Versager und Säufer.« Ich betrachte sie, wie sie da vor mir steht, so sicher, so selbstgefällig, so absolut zuversichtlich, und ich weiß, dass sie dazu durchaus berechtigt ist, sie hat mich auf frischer Tat ertappt. Und obgleich lediglich Indizienbeweise vorzuliegen scheinen, wissen wir doch beide, dass dem nicht so ist. Wir wissen beide, dass sie Recht hat.

»Was willst du?«, flüstere ich schließlich, weil ich mir sage, dass jeder seinen Preis hat, ich muss nur herausfinden, worin ihrer besteht. Im Laufe des letzten Jahres habe ich genug Gedanken mitgehört, genug Visionen gesehen, um zu wissen, dass es so ist.

»Also, zuallererst will ich, dass du aufhörst, mich zu nerven«, verkündet sie, verschränkt die Arme und klemmt sich den Beweis fest in die Achselhöhle.

»Aber ich nerve dich doch gar nicht«, wende ich ein klein wenig undeutlich ein. »Du nervst mich.«

»Au contraire.« Sie lächelt und mustert mich mit sengendem Blick. »Dich einfach nur Tag für Tag ansehen zu müssen, nervt. Und zwar wie.«

»Willst du, dass ich den Englischkurs wechsele?«, frage ich und halte noch immer diese dämliche Flasche in der Hand; ich weiß nicht recht, was ich damit machen soll. Wenn ich sie in meinem Spind lasse, petzt sie, und die Flasche wird konfisziert, und wenn ich sie in meinen Rucksack stecke, passiert dasselbe.

»Du weißt doch, dass du mir immer noch das Geld für das Kleid schuldest, das du bei deinem spastischen Tobsuchtsanfall neulich kaputt gemacht hast.«

Das ist es also, Erpressung. Gut, dass ich auf der Rennbahn all die Kohle gewonnen habe.

Hastig wühle ich in meinem Rucksack und finde meine Brieftasche; ich bin mehr als bereit, ihr das Geld zurückzuerstatten, wenn das hier damit ein Ende hat. »Wie viel?«, erkundige ich mich.

Sie mustert mich eingehend, versucht, meinen unmittelbaren Nettowert zu schätzen. »Na ja, wie gesagt, das war ein Designerkleid ... und das kann man nicht so leicht ersetzen ... Also -«

»Hundert?« Ich ziehe einen Hunderter heraus und halte ihn ihr hin.

Sie rollt die Augen. »Obwohl mir ja klar ist, dass du so dermaßen keine Ahnung von Mode und allem anderen hast, was sich zu besitzen lohnt, musst du da wirklich noch zulegen. Pack mal noch ein bisschen was drauf«, sagt sie und beäugt mein Geldscheinbündel.

Doch da Erpresser stets wiederkommen und immer mehr zu verlangen pflegen, weiß ich, dass es besser ist, das Ganze jetzt gleich zu erledigen, bevor es ausufern kann. Also sehe ich sie an und sage: »Da wir beide wissen, dass du dieses Kleid auf dem Rückweg von Palm Springs im Outlet gekauft hast« - ich lächele; mir fällt wieder ein, was ich an jenem Tag im Flur gesehen habe - »gebe ich dir das zurück, was das Kleid gekostet hat, und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, waren das fünfundachtzig Dollar. Da ist ein Hunderter doch ziemlich großzügig, findest du nicht?«

Ihr Gesicht verzerrt sich zu einem Grinsen, als sie den Schein nimmt und ihn tief in ihrer Tasche versenkt. Dann huscht ihr Blick zwischen der Wasserflasche und mir hin und her, und sie lächelt abermals, als sie fragt: »Und, willst du mir etwa nichts zu trinken anbieten?«

 

Wenn irgendjemand mir gestern gesagt hätte, dass ich mich mit Stacia Miller auf der Toilette volllaufen lassen würde, ich hätte es niemals geglaubt. Aber genau das tat ich. Folgte ihr schnurstracks aufs Mädchenklo, wo wir uns eine Wasserflasche voll Wodka reinziehen konnten.

Es geht doch nichts über gleiche Abhängigkeiten und verborgene Geheimnisse, um Menschen einander näherzubringen.

Und als Haven hereinkam und uns so vorfand, fielen ihr fast die Augen aus dem Kopf. »Was geht denn hier ab?«

Ich verfiel in einen kreischenden Lachanfall, während Stacia sie anblinzelte und lallte: »Komm nur rein, Grufff-tsssickke!«

»Hab ich hier was verpasst?«, fragte Haven und schaute mit schmalen, misstrauischen Augen von einem zum anderen. »Soll das witzig sein?«

Und wie sie dastand, so gebieterisch, so verächtlich, so absolut nicht erfreut, darüber mussten wir nur noch mehr lachen. Dann machten wir uns wieder ans Trinken, sobald die Tür hinter ihr zugeknallt war.

Aber sich mit Stada auf der Toilette abzufüllen, verschafft einem nicht etwa Zugang zum VIP-Tisch. Und da ich klug genug bin, es gar nicht erst zu versuchen, strebe ich auf meinen üblichen Platz zu. Mein Kopf ist so zugemüllt und mein Gehirn so vernebelt, dass es einen Augenblick dauert, bis ich merke, dass ich auch dort nicht willkommen bin.

Mit einem Plumps lasse ich mich auf die Bank fallen, sehe Haven und Miles blinzelnd an und fange dann ohne ersichtlichen Grund an zu lachen. Oder zumindest ohne für sie ersichtlichen Grund. Aber könnten die beiden nur ihre eigenen Gesichter sehen, dann würden sie bestimmt auch lachen, das weiß ich.

»Was ist denn mit der los?«, will Miles wissen und schaut von seinem Drehbuch auf.

Haven macht ein finsteres Gesicht. »Sie ist sternhagelvoll, absolut total breit. Ich hab sie auf dem Klo erwischt, wie sie sich ausgerechnet mit Stada Miller die Kante gegeben hat.«

Miles starrt ungläubig, die Stirn in so tiefe Falten gelegt, dass ich wieder loslache. Und als ich mich gar nicht beruhigen will, beugt er sich zu mir, kneift mich in den Arm und sagt: »Psst!« Rasch blickt er sich um und sieht dann wieder mich an. »Im Ernst, Ever, spinnst du? Mein Gott, seit Damen weg ist, bist du -«

»Seit Damen weg ist, bin ich was?« Ich reiße mich so schnell los, dass ich das Gleichgewicht verliere und fast von der Bank falle; ich kann mich gerade noch rechtzeitig fangen, um zu sehen, wie Haven den Kopf schüttelt und hämisch grinst. »Na los, Miles, spuck's schon aus.« Wütend funkele ich ihn an. »Du auch, Haven, spuck's aus.« Nur kommt das mehr als schbbugggsaus heraus, und glaubt bloß nicht, dass sie das nicht mitbekommen.

»Du willst, dass wir's ausschbbuggn?« Miles schüttelt den Kopf, während Haven die Augen verdreht. »Also, das würden wir bestimmt gern tun, wenn wir nur wüssten, was das heißen soll? Weißt du, was das heißt?« Er sieht Haven an.

»Klingt wie 'ne Fremdsprache«, meint sie und mustert mich finster.

Ich rolle die Augen und stehe auf, um wegzugehen, nur koordiniere ich das Aufstehen nicht besonders gut und stoße mir heftig das Knie an. »Auaaf«, jaule ich, sacke wieder auf die Bank und umklammere mein Bein, die Augen vor Schmerz fest zugekniffen.

»Hier, trink das«, drängt Miles und schiebt mir sein Vitaminwasser hin. »Und rück deinen Autoschlüssel raus, denn du fährst mich ganz bestimmt nicht nach Hause.«

 

Miles hatte Recht, ich fuhr ihn ganz bestimmt nicht nach Hause. Weil er das nämlich selbst tat.

Ich wurde von Sabine nach Hause gebracht.

Sie verstaut mich auf dem Beifahrersitz und geht dann auf ihre Seite hinüber, und als sie den Motor anlässt und vom Parkplatz fährt, schüttelt sie den Kopf und sagt: »Rausgeschmissen? Wie wird man als eine der besten Schülerinnen der ganzen Schule rausgeschmissen? Kannst du mir das bitte mal erklären?«

Ich schließe die Augen und drücke die Stirn gegen die Fensterscheibe; das glatte, saubere Glas kühlt meine Haut. »Nur vorübergehend«, murmele ich undeutlich. »Weißt du nicht mehr? Du hast sie doch runtergehandelt. Und zwar echt eindrucksvoll, wenn ich das sagen darf. Jetzt weiß ich auch, wieso du die dicke Kohle scheffelst.« Ich schiele aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber, gerade als der Schock, den meine Worte ausgelöst haben, ihre Miene von besorgt auf empört umschalten lässt und ihre Züge sich auf eine Weise neu formieren, wie ich es noch nie gesehen habe. Obwohl ich weiß, dass ich ein schlechtes Gewissen haben, mich schämen, mich schuldig und noch schlimmer fühlen sollte - Tatsache ist, dass ich sie nicht gebeten habe, einzuschreiten. Ich habe sie nicht darum gebeten, auf mildernde Umstände zu plädieren. Zu behaupten, dass mein Alkoholkonsum auf dem Schulgelände eindeutig durch die schwer wiegende Situation abgemildert würde, in der ich mich befände, durch den enormen Tribut, den es erfordert, seine gesamte Familie zu verlieren.

Auch wenn sie das alles in gutem Glauben gesagt hat, auch wenn sie sicher ist, dass es stimmt, heißt das nicht, dass es wirklich so ist.

Denn die Wahrheit ist, ich wünschte, sie hätte überhaupt nichts gesagt. Ich wünschte, sie hätte einfach zugelassen, dass ich von der Schule fliege.

In dem Moment, in dem sie mich vor meinem Spind erwischten, verflog der Schwips, und die Ereignisse des Tages stürzten von Neuem auf mich ein, wie die Vorschau eines Films, den ich lieber nicht sehen würde. Und blieben bei der Szene hängen, in der ich vergessen hatte, Stacia dazu zu bringen, das Bild zu löschen. Später, im Büro des Direktors, als ich erfuhr, dass Stacia Honors Handy benutzt hatte und sie wegen einer unglücklichen »Lebensmittelvergiftung« nach Hause gegangen war (allerdings nicht, ehe sie es so eingefädelt hatte, dass Honor das Bild zusammen mit ihrer »Betroffenheit« an Direktor Buckley weiterleitete), und obwohl ich mächtig in der Klemme saß (ich meine, in einer riesigen, gewaltigen »Du kannst dich darauf verlassen, dass das auf Dauer in deiner Akte vermerkt wird«-Klemme), gab es trotzdem diesen kleinen Teil von mir, der sie bewunderte. Diesen Teil, der seinen winzigen Kopf schüttelte und dachte:

Bravo! Super hingekriegt!

Denn trotz des Ärgers, den ich jetzt habe, nicht nur mit der Schule, sondern auch mit Sabine - Stacia hat nicht nur ihr Versprechen eingelöst, mich fertigzumachen, sondern sie hat es auch geschafft, hundert Dollar einzustreichen und den Nachmittag frei zu kriegen. Und das ist echt bewundernswert.

Zumindest auf eine berechnende, sadistische, fiese Weise.

Dank Stacias und Direktor Buckleys gemeinsamen Bemühungen muss ich morgen nicht zur Schule. Oder übermorgen. Oder am Tag danach. Was bedeutet, dass ich das ganze Haus für mich haben werde. Den ganzen Tag lang, jeden Tag, und dass ich jede Menge Freiraum haben werde, um weiterzutrinken und meine Trinkfestigkeit zu verbessern, während Sabine bei der Arbeit ist.

Denn jetzt, da ich den Pfad entdeckt habe, der zum Frieden führt, wird mir niemand im Wege stehen.

»Wie lange geht das schon so?«, will Sabine wissen. Sie weiß nicht genau, wie sie anfangen, wie sie mit mir umgehen soll. »Muss ich jetzt jeglichen Alkohol verstecken? Muss ich dir Hausarrest verpassen?« Sie schüttelt den Kopf. »Ever, ich rede mit dir! Was ist da vorhin passiert? Was ist los mit dir? Möchtest du, dass ich dich bei jemandem anmelde, mit dem du reden kannst? Denn ich kenne da einen ganz hervorragenden Psychologen, der sich auf Trauerhilfe spezialisiert hat.«

Ich kann spüren, wie sie mich ansieht, kann tatsächlich die Sorge fühlen, die ihr Gesicht ausstrahlt, doch ich schließe lediglich die Augen und tue so, als ob ich schlafe. Ich kann es unmöglich erklären, kann ihr unmöglich die ganze schäbige Wahrheit sagen, mit Auras und Visionen und Geistern und unsterblichen Ex-Freunden. Denn obwohl sie für die Party eine Hellseherin angeheuert hat, hat sie das als Witz gemeint, als Gag, als gruseligen, aber harmlosen Partyspaß. Sabine ist linkshirnig veranlagt, organisiert, strukturiert, sie operiert strikt mit Schwarz und Weiß und vermeidet jegliches Grau. Und sollte ich jemals dumm genug sein, mich ihr anzuvertrauen, ihr die wahren Geheimnisse meines Lebens zu offenbaren, dann würde sie mehr tun, als mich nur bei jemandem anzumelden, mit dem ich reden kann. Sie würde mich einweisen lassen.

 

Wie sie es versprochen hat, versteckt Sabine sämtliche alkoholischen Getränke, ehe sie wieder zur Arbeit fährt, doch ich warte einfach, bis sie weg ist, und schleiche dann die Treppe hinunter. Unten gehe ich in die Speisekammer und hole all die Wodkaflaschen, die noch von der Halloweenparty übrig geblieben sind, die, die sie ganz hinten verstaut und längst vergessen hat. Und nachdem ich sie in mein Zimmer hinaufgeschleppt habe, lasse ich mich auf mein Bett fallen, ganz hin und weg von der Aussicht, drei volle Wochen schulfrei zu haben. Einundzwanzig lange, wundervolle Tage liegen vor mir wie Futter vor einer überfütterten Katze. Eine Woche wegen meines Verweises und zwei wegen der günstig gelegenen Winterferien. Und ich habe vor, sie nach besten Kräften zu nutzen und jeden einzelnen langen Tag in einem wodkainduzierten Zustand des Benebeltseins zu verbringen.

Ich lehne mich gegen die Kissen und schraube den Verschluss auf, fest entschlossen, mir den Flascheninhalt einzuteilen, indem ich jeden einzelnen kleinen Schluck begrenze und dem Alkohol erlaube, ganz meine Kehle hinunterzurinnen und bis in meinen Blutkreislauf zu gelangen, ehe ich den nächsten Schluck trinke. Schütten, Kippen oder Riesenschlucke sind nicht erlaubt. Nur ein langsamer, stetiger Strom, bis mein Kopf allmählich klar wird und die ganze Welt heller ist. Bis ich zu einem sehr viel fröhlicheren Ort hinabsinke. Eine Welt ohne Erinnerungen. Ein Zuhause ohne Verlust.

Ein Leben, wo ich nur das sehe, was ich sehen soll.